Der Körper im Spannungsfeld der Blicke: Eakins und seine Betrachter in The Gross Clinic (1875)

Franziska Scheitzeneder

Einleitung

Bevor wir uns moderneren Themen der visuellen Kultur zuwenden, möchte ich zum Beginn unseres Rundumblicks auf ein klassisches Medium visueller Darstellung zurückkommen: die Malerei. Thomas Eakins' Gemälde The Gross Clinic (Abb. 1), in der Retrospektive als bedeutende Etappe des amerikanischen Realismus gefeiert, trägt auch den Titel Portrait of Dr Gross. Doch dieser Titel ist irreführend: Denn es handelt sich hier um weit mehr als nur um ein Porträt des für die amerikanische Chirurgie und deren Fortschritt wichtigen Dr. Gross.

Abbildung 1

Auf der monumentalen Fläche von 2,43 Meter Höhe und 1,98 Meter Breite sehen wir Dr. Gross bei der Durchführung einer Lehroperation. Das Gemälde ist somit mehr Porträt einer Situation, die eine Fülle weiterer Figuren beinhaltet. Die Anwesenheit und Konstellation dieser Figuren ermöglicht weitreichendere Aussagen als die, dass es sich bei The Gross Clinic um die Ehrung eines großen Chirurgen und dessen Praxis handelt.

Ich möchte darauf zu sprechen kommen, dass neben der Narration der Lehroperation noch eine weitere existiert, in der in besonderer Weise der Körper des Patienten und auch die einzige Frauenfigur des Bildes Bedeutung erlangen. In diesen zweiten Erzählstrang ist auch der Betrachter stark eingebunden. Mit ihm zusammen verhandelt Eakins in der Oszillation zwischen zwei Blickweisen auf den Patienten, was 'Blicken' überhaupt bedeutet und inwiefern die Annahme eines objektivierenden Blicks problematisch, vielleicht sogar unmöglich ist.

Bildbeschreibung

Im Bildvordergrund steht die Gruppe der Operateure. Sie ist kreisförmig um den Operationstisch verteilt, auf dem sich das Objekt der Operation befindet. Auf den ersten Blick ist es tatsächlich nur ein Objekt, auf das sich die Konzentration der Assistenten richtet: Ein Stück nackter Haut, dessen vorstechendstes Charakteristikum ist, dass es eine längliche blutige Wunde trägt.

Löst man sich von dieser Wunde, so kann man mit einiger Mühe ausmachen, dass sich diese auf dem Oberschenkel eines Menschen befindet, der seitlich mit angewinkelten Beinen auf dem Tisch liegt. Doch ist der restliche Körper durch das Tuch des Anästhesisten und die agierenden Assistenten verdeckt. Dr. Gross selbst stützt sich mit einer Hand am Operationstisch ab und richtet den Blick nicht auf das Objekt der Operation. Dies ist die zentrale Figurenkonstellation des Gemäldes. Zusammengehalten wird sie durch mehrere Aspekte: Die kreisförmige Anordnung um den Tisch wird beispielsweise noch verstärkt durch die Blickrichtung, die analog zur Betätigung der Hände am Patienten ist und somit die später noch bedeutsame Gleichsetzung 'Blicken = Handeln' impliziert. Vor allem die Farbgebung vermittelt den Eindruck, als wären die nackten Hände der Assistenten eins mit dem Oberschenkel und erst wenn wir uns nach Außen bewegen, führen uns die dunklen Anzugärmel zu den einzelnen Personen (oder gerade nicht, wie das bei dem angenommenen fünften Assistenten hinter Gross' Rücken ist, von dem wir nur die Hand sehen). Diese Auswärtsbewegung geht aus von der blutigroten Wunde, führt über die blutverschmierten Hände, zur hellen Haut des Oberschenkels und der daran beschäftigten Hände, zum Weiß des Betäubungstuchs, der Manschetten und des Lakens, auf dem der Körper liegt, und schließlich hin zu den dunklen Anzügen. Dr. Gross wird außer seiner abgestützten Hand vor allem durch seine blutigen Finger, in denen er das Skalpell hält, mit dieser Gruppe verbunden.

Im Mittelgrund des Bildes ist ein Protokollant dargestellt, der den Blick auf seine Notizen konzentriert. Durch die Farbgebung ist auch er in gewisser Verbindung mit der Gruppe am Operationstisch. Beziehen wir diese Figur mit ein, wird aus der kreisförmigen Bewegung, die sich aus dem Zentrum der Wunde entfaltet, eine Bewegung vom rechten unteren Bildrand diagonal über die Köpfe der Operateure zum Protokollanten hin. Gerechtfertigt ist diese Linie vor allem durch die Abfolge dreier Hände, die ein längliches Werkzeug führen; und dadurch, dass der Operationstisch, Dr. Gross' Stirn und das Schreibpult die hellsten Flächen in dem sonst bräunlichen Halbdunkel sind.

Den Hintergrund bildet das Auditorium. Dieses ist nun ganz ins Halbdunkel getaucht und wirkt im Gegensatz zu den sehr scharf gezeichneten Figuren des Vordergrunds unklar, verschwommen und zweidimensional. Der Hintergrund funktioniert wie eine gemalte Bühnenkulisse, vor der sich die Handlung abspielt. Dieser Eindruck wird noch deutlicher, wenn man den rötlich gehaltenen Türrahmen betrachtet, in dem zwei Personen stehen: Sie erscheinen wie Figuren auf einer eigenen Leinwand. Ein Bild im Bild, das genau den Operationstisch einfasst. Die Figuren in diesem zweiten Bild sind die einzigen, die in Richtung des Betrachters blicken.

Eine Figur, die sich jeglicher Relation zum Gesamtbild entzieht, befindet sich schließlich noch im linken unteren Bildrand. Zwergenhaft klein erscheint sie neben Gross und unter dem erhöhten Schreibpult. Wie schon der Patient auf dem Operationstisch lässt sich auch diese Figur nicht leicht entziffern. Ihr Charakteristikum sind zwei verkrampfte Hände, von denen eine das Gesichtsfeld bedeckt. Der Blick, den wir hier annehmen, ist nach unten abgewendet.

Gerade durch die Verweigerung einer Verbindung zu den anderen Figuren entsteht allerdings doch eine Verbindung. Ihre verkrampften Hände, Gross' blutige Hand und die Wunde auf dem Oberschenkel ergeben eine Sinnlinie. Wie uns schon Gross' Skalpell und das Blut an seinen Fingern einen kausalen Zusammenhang mit der blutigen Wunde annehmen lassen, können wir in dieser paralysierten Figur eine Reaktion auf den vorangegangenen Schnitt lesen. Vor allem diese in der Ecke kauernde Figur macht das 'Porträt' des Dr. Gross problematisch und muss als Hinweis genommen werden, dass sich hier noch mehr vor uns ausbreitet, als die Darstellung eines wissenschaftlichen Vorganges.

Bildwirkung

Eakins' Gemälde ist verstörend, rätselhaft. Allein schon durch die schwache Beleuchtung der Szene verweigert es dem Betrachter die Klarheit und Durchsichtigkeit, die das wissenschaftliche Sujet vermitteln will. Doch die Beunruhigung, die von dem Bild ausgeht, hat nichts mit dieser Undurchdringlichkeit auf den ersten Blick zu tun. Vielmehr damit, dass sich gleichzeitig zu dieser Abblockung des Betrachterblicks eine gegenläufige Dynamik einstellt: Der Betrachter wird aufs Unangenehmste an bestimmten Punkten in das Bild hineingezogen. So ist es unmöglich, sich dem Sog des Patienten auf dem Operationstisch zu entziehen. Wir versuchen sofort, ihn zu 'enträtseln' und einen Körper zu rekonstruieren. Sobald man es geschafft hat, die Pose auszumachen, in der der Körper sich befindet, wird einem schlagartig seine Nacktheit bewusst. Und diese bleibt nicht neutral. Dem Betrachter gelingt es nämlich gerade nicht, den professionalisierten Blick auf den Körper zu verwenden, den die Chirurgen zugrundelegen. Wir können den Körper nicht abstrahieren wie sie.

Im Bild geschieht diese Abstraktion in der schon angesprochenen diagonalen Linie: Die Assistenten wenden auf den Körper ihr chirurgisches Wissen an und konzentrieren sich in ihrer Arbeit nur darauf; Dr. Gross dreht sich hingegen schon in theoretischer Kontemplation vom tatsächlichen Körper weg; und der Protokollant schließlich hat keinerlei Verbindung mehr zum Körper des Patienten. Er notiert nur noch die chirurgische Theorie.

Wir jedoch lesen den Körper anders. Und wir müssen es tun, da es die Figur gibt, die den Blick schmerzvoll abwendet. Durch sie wird der durch die Wissenschaft geschlechtslos und identitätslos erscheinende Körper für den Betrachter zum Problem. Wir wollen ihm eine Identität und eine Bedeutung geben. In diesem Identifizierungsprozess wird der Körper sogar auf grausame Weise sexualisiert: Der Schnitt, der durch Gross durchgeführt wurde, hinterlässt eine vaginale Öffnung am sonst nicht geschlechtlich markierten Patienten (Abb. 2).1 Diese wird durch den jungen Assistenten rechts unten und eine Hand, die scheinbar aus dem Nichts kommt noch weiter aufgespreizt und vom Blick und dem Instrument das durchführenden Operateurs durchdrungen.

Abbildung 2

Als Betrachter des Bildes bewegen wir uns nun zwischen zwei Blicken: Dem forschenden Blick des Operateurs und der entsetzten Abwendung des Blicks der Figur auf der linken Seite. Am Körper des Patienten entzünden sich beide Blicke. Ähnlich dem Chirurgen versuchen wir das sichtbare Stück Mensch in einen sinnvollen körperlichen Zusammenhang zu bringen. Dabei müssen wir uns in gewisser Weise mit ihm identifizieren und vor dem geistigen Auge die Pose selbst nachspielen, in der er sich befindet. Dadurch wird der Betrachter in seiner eigenen Körperlichkeit verletzt und tritt schockiert zurück.2 Er ist nun Verletzter und Verletzender zugleich. Denn der Blick, den wir in diesen Patientenkörper investieren, ist genauso scharf wie Dr. Gross' Skalpell. Durch den Anästhesisten und das Betäubungstuch jeglicher Persönlichkeit und Eigenbestimmtheit beraubt, wird der Körper des Patienten zu einer reinen Projektionsfläche des Blicks.3 Die kauernde Figur macht uns aufmerksam auf die Grausamkeit eines solch sezierenden und bestimmenden Blicks. Einerseits versucht sie krampfhaft selbst nicht zu sehen, andererseits will sie auch von uns nicht gesehen werden. Sie verbirgt ihr Gesicht und bietet uns im Gegensatz zur nackten Haut des Patienten kaum körperliche Angriffsfläche. Sie ist somit eine Reaktion auf den Betrachter-auf uns selbst und unsere Aktivität. In ihrer Erstarrung macht sie uns die Macht des Blicks erst bewusst.

Es gibt im Bild noch eine weitere Reaktion auf den Betrachter. Nicht in verkrampfter Abwehrhaltung, sondern in fast meditativer Ruhe blicken die beiden Figuren im Türrahmen als einzige direkt in Richtung des Betrachters. Wird man sich dessen bewusst, fühlt man sich beobachtet und ertappt. Denn sie sehen uns dabei zu, wie wir den Patienten und vor allem seine hervorstechende Wunde fixieren und mit gezielten Blicken bearbeiten-und damit in fast sadomasochistischer Weise am Geschehen teilnehmen.4 Sie stellen also die begehrliche Seite des Blickes bloß, die im dargestellten Szenario so gar nicht angebracht scheint.

Eakins und der Körper

Es ist durchaus interessant, dass Eakins den Blick auf den nackten Körper in The Gross Clinic derart schwierig macht. Dass die Grenzen zwischen dem professionellen Blick und dem sexualisierenden verschwimmen. Eakins selbst war nämlich ein radikaler Verfechter der beruflichen Notwendigkeit des nackten Modells für den Künstler (vgl. Homer 173). In seinen Klassen an der Pennsylvania Academy, die er 1878, also drei Jahre nach Fertigstellung von The Gross Clinic, als Lehrer betrat, lehrte er den 'professionellen' Umgang mit dem nackten Körper. Dabei ging Eakins sogar so weit, den Blick auf das Modell und das Anfassen des Modells auf eine gleiche Stufe zur Erlangung von Klarheit zu stellen (vgl. Homer 178). Diesen Blick idealisierte er als von sexuellen Komponenten befreit und sah sein Vorbild im medizinischen Umgang mit dem Körper.5 Die Erfahrung, selbst nackt für Andere zu posieren, gehörte für seine Schüler zum Standardprogramm. Und auch Lehrer Eakins verbarg seinen eigenen Körper nicht vor ihnen. Mit seinem spontanen, naiv wirkenden Exhibitionismus trieb er seine Theorie eines bedeutungsfreien Blicks auf die Spitze.

Da nun aber der Blick auf den nackten Körper nicht neutral und objektiv ist, waren Eakins' pädagogische Methoden bald skandalumwittert.6 Und The Gross Clinic zeigt, dass schon bevor die Skandale um Eakins begannen, er selbst sich mit der Vielfältigkeit und weitreichenden Bedeutung des Blicks auseinandersetzen musste-auch wenn er später dazu tendierte, den Blick zu verharmlosen.

Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass Eakins sich in The Gross Clinic selbst in den Mittelpunkt der Blicke positioniert. Die Unsicherheit der Identität des Patienten ist notwendig als Platzhalter für eine Reihe sich austauschender Identitäten. So wie der Betrachter sich selbst einschreiben muss, um der Figur Sinn zu geben, schreibt sich Eakins ebenso in den Patienten ein. Und das im wörtlichen Sinne. Eakins' Signatur befindet sich innerhalb der Welt des Bildes auf dem Operationstisch. Der gesichtslose Patient erhält einen Namen: Eakins. Doch was bedeutet es, wenn eine solche Lesart des Bildes vom Künstler angedeutet wird? Wie sieht er sich selbst und sein Schaffen?

Problematisch wird diese Frage, wenn wir uns von der Gleichsetzung von Gross und Eakins wegbewegen, die ebenfalls im Bild zu finden ist.7 Denn damit entfernen wir uns von der Heroisierung des professionalisierten Blicks. Eakins vervielfältigt sich plötzlich: Er sitzt im Auditorium, er operiert, er liegt auf dem Operationstisch. Dies setzt sich in einer komplizierten Verflechtung der Aktivitäten fort: Als tatsächlich identifizierbare Figur sitzt Eakins aufmerksam im Auditorium, den Blick auf Dr. Gross und die Operation gerichtet und mit einem Stift in der Hand (Eakins ist die erste, am rechten Bildrand zu erkennende Figur im Auditorium; deutlicher ist dies in der Tuschekopie von The Gross Clinic: Abb. 3). Hier heißt Blicken 'Wissen aufnehmen'. Als Analogie zu Dr. Gross gesehen, feiert Eakins die Professionalität seiner eigenen Kunst und seines objektiven Blicks.

Abbildung 3

Wenn Eakins sich schließlich aber auf den Operationstisch legt, um unter Dr. Gross sein eigenes Gesicht aufgeben zu müssen, problematisiert er in seiner Objekthaftigkeit diesen kühlen präzisen Chirurgenblick, den er angeblich selbst anwendet. Setzen wir nun bei Dr. Gross 'Blicken' mit 'Handeln' gleich, dann ist es dieser Blick, der Eakins verletzt und ihn auf grausame Weise als weiblich sexualisiert. Hier finden wir die in der Kastrationsangst manifeste Annahme, dass Weiblichkeit durch verletzte Männlichkeit entsteht.8 Im Diskurs des Wissens gefangen, ist sich mit einer Ausnahme niemand im Bild dieser Tatsache bewusst. Diese Ausnahme bildet die buchstäblich an den Rand gedrängte weiblich kodierte Figur, die in ihrer Emotionalität die Antithese von Gross ist. Sie ergibt sich nicht dem Blick, sondern wehrt sich gegen diese brutale Basis der sexuellen Differenzierung.9 Jedoch wird sie innerhalb des Bildes konsequent nicht wahrgenommen. Nur wir als Betrachter scheinen uns ihrer bewusst zu sein und somit ist die Kritisierung des sexualisierenden Blickwinkels uns überlassen.

The Gross Clinic kann also in der Dynamik zwischen Patientenfigur und Frauenfigur auch als Auslotung der Bedeutungen des Blicks verstanden werden. Die Wissenschaft, die Eakins' Malerei als wichtige Grundlage diente, versucht zu objektivieren. Sie schließt subjektive Wahrnehmung und die damit verbundenen Gefühle aus. Der Körper wird nicht als Medium von Kommunikation und sozialer Interaktion verstanden, sondern als in sich geschlossenes System. Der Wissenschaftler ist gezwungen, sich von sozialen Bedeutungen loszulösen-er entfernt das Gesicht des Patienten, bevor er sich ihm mit dem Skalpell nähert. Doch ist das überhaupt möglich?

Ich möchte argumentieren, dass dies für Eakins nicht der Fall war, und dass er mit der Unmöglichkeit dieser Objektivierung zu kämpfen hatte. Auch wenn er den nackten Körper als neutral ansehen wollte, blieb er trotzdem im sozialen Kontext dieses Körpers verstrickt. Beispielsweise zog er es vor, keine Prostituierten als Aktmodelle in seinen Klassen einzustellen, da deren Körper mit sozialer Bedeutung überladen sind (vgl. Doyle 16). Körper war also nicht gleich Körper für ihn. Um die künstlerische Tradition des weiblichen Akts machte er einen ähnlich großen Bogen, da hier der Körper reine Konvention, also reine Bedeutung, ist (vgl. Doyle 12f.). In der Ausblendung der sozialen Bedeutung des nackten Körpers, die er versuchte, bestand also gerade seine Verflechtung darin-ähnlich wie die kauernde Figur im Gemälde gerade durch die Verweigerung des Blicks auf den Blick hinweist.

Die Problematik des sozialen Kontexts des nackten Körpers und der Wahrnehmung desselben übersetzte Eakins in die verrätselten Momente in The Gross Clinic. Seinem Credo der Objektivität des künstlerischen Blicks folgend konnte er sich dem Problem nicht auf direkte Weise stellen, sondern musste andere Mittel zur Auseinandersetzung finden. Das Drama, das er in The Gross Clinic neben der Lehroperation inszenierte, ist eine solche Art der Auseinandersetzung.

Um Dr. Gross ein Denkmal zu setzen, hätte er tatsächlich auch anders vorgehen können. In dieser Hinsicht ist die kauernde Figur tatsächlich "unnötig", wie ein früher Kritiker seines Gemäldes bemerkte (vgl. Homer 82). Diese Figur gibt keinen Sinn, wenn man dem Bild nur dokumentarischen Wert beimisst. Wie aus der Ölskizze des Gemäldes hervorgeht (Abb. 4), hat sie sich in dieser Form auch erst später eingeschlichen und wir dürfen annehmen, dass sie nicht zur Originalszene gehört hat, die immer wieder für dieses Gemälde postuliert wird.10 Dass sie in der traditionellen Rezeption als Mutter des Patienten gelesen wird, ist ein Versuch, ihr in der ersten Narration einen Platz zu geben und ihr eine weitergreifende, problematischere Bedeutung abzusprechen.11

Abbildung 4

Parodie auf The Gross Clinic: Aufhebung der Spannung

Die Unwirklichkeit einiger Aspekte (die, wie gesagt, paradoxerweise immer wieder auf die reale Situation zurückgeführt wurde) gibt The Gross Clinic die Qualität einer wunderlichen Traumsequenz. Eakins selbst scheint dies auch wahrgenommen zu haben. Denn offensichtlich befand er es für notwendig, das Drama von The Gross Clinic, diesen zweiten Erzählstrang des Bildes, mit Anderen auf groteske Weise weiterzuführen: In einer Parodie auf sein eigenes Gemälde spielte er die dargestellte Szene mit übertriebenen Mitteln nach (Abb. 5). Ein tableau vivant der besonderen Art, das nicht so sehr mit Ähnlichkeit, als viel mehr mit weiterer Verfremdung ins Traumhafte arbeitet.

Abbildung 5

Das Instrument der chirurgischen Präzision-das Skalpell-wurde durch ein grobschlächtiges Beil ersetzt. Und auch das Pendant des Assistenten, der direkt an der offenen Wunde arbeitet, erfährt eine Verwandlung ins Monströse: In der Parodie ist dieses Instrument eine Harpune. Die Verkrampfung der nicht sehen wollenden Figur verkommt zur theatralischen Geste. Und Dr. Gross lädt den Betrachter mit seiner Handbewegung förmlich ein, an diesem bizarren Spektakel teilzuhaben. Damit wird in der Verfremdung nicht zuletzt auch die Bizarrheit des Originalgemäldes entblößt12 und auf die schaurigschöne Beteiligung des Betrachterblicks hingewiesen.

In dieser spielerischen, abreagierenden Wiederholung ergibt sich eine Möglichkeit der Überwindung der suggestiv entwickelten Spannungen in The Gross Clinic. Dass jedoch die Problematik des angebrachten Blicks nicht mit der Auseinandersetzung in The Gross Clinic abgeschlossen war, sondern wieder und wieder neu inszeniert werden musste, zeigen die bereits angesprochenen späteren Skandale um Eakins' Lehrmethoden.

Zusammenfassung

The Gross Clinic diskutiert also auf schmerzhafte Weise die Bedeutungen des Blicks-des Blicks des Wissenschaftlers, des Künstlers und des Betrachters. All diese Blicke treffen sich in der Beschäftigung mit dem nackten Körper, denn ihm legen sie Bedeutung auf oder versuchen sie ihm zu verweigern.

In gewisser Weise handelt es sich um ein Gemälde, das dem Betrachter untersagt, es sich anzusehen. Und natürlich tut er es trotzdem. Allein dadurch, dass wir uns das Bild ansehen, müssen wir uns schon fragen, ob unser Blick angebracht ist. Denn wie schon angesprochen gibt es im Bild Reaktionen auf uns. In einer spiegelhaften Verdopplung werden wir beim Blicken selbst aus dem Bild heraus aufmerksam beobachtet; und die in der Ecke kauernde Figur versteckt sich vor und wehrt sich gegen unseren Blick. Somit liegt in der Bewusstmachung der Konsequenzen unserer ständig wechselnden Positionen als Betrachter sowie als Objekt der Betrachtung das eigentliche Verdienst dieses Gemäldes.


1 Jennifer Doyle unterstützt diese Wahrnehmung der Wunde (4).

2 Sich auf Michael Fried berufend, nennt Doyle die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit einen Effekt des Sehens dieses Bildes (23).

3 Doyle konzentriert sich auf unsere Untersuchung nach dem Geschlecht des Körpers und kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass der Körper nicht lesbar ist, sondern nur als Objekt unserer Untersuchung dient, die somit ein Ziel in sich ist (21).

4 Fried sieht den Sadismus eher auf Eakins' Seite, der es mit der komplizierten Positionierung des Patienten für den Betrachter absichtlich erschwert, sich zurechtzufinden (59).

5 Dass seine Forderung nach Neutralität nicht seiner Praxis entsprach wird u.a. von Doyle angesprochen (8-9).

6 Doyle macht darauf aufmerksam, dass Methoden wie Eakins' auch heute nicht akzeptabel wären und der Skandal darum nicht nur mit der besonderen Prüderie seiner Zeit zusammenhing (3-4).

7 Fried führt diese Analogie zwischen Gross und einem Maler detailliert aus (15-16).

8 Fried hat die Thematik des Kastrations- und Ödipuskomplexes in The Gross Clinic weiter untersucht (66ff.).

9 Mieke Bal argumentiert, dass die Figur sogar nur durch ihre andere Sichtweise, die mit der männlichen Welt des Bildes kollidiert, weiblich kodiert werden kann (51).

10 Ein Beispiel hierfür ist Elizabeth Johns, die die Komplexität der Figurenkonstellation auf die reale Situation zurückführt (52). Michael Fried fasst diese Tendenz zur Relativierung der Komplexität ebenfalls zusammen und betont dass die Verantwortung beim Künstler und nicht in einer Originalszene zu suchen ist (10-11).

11 Johns macht William Sartain und seinen Artikel über Eakins von 1918 zum ersten Referenzpunkt für diese Annahme einer Mutterfigur (48). Bal geht in ihrer Sichtweise dieser Figur sogar so weit, nicht nur deren Weiblichkeit anzuzweifeln, sondern sogar die Voraussetzung, dass sie ein menschliches Wesen ist (48).

12 Doyle meint, dass die Phantasien, die in The Gross Clinic angelegt, aber nicht explizit ausgeführt sind, hier zutage gefördert werden (25).

Für C., die meine Inspiration zu diesem Vortrag war.

Literatur

Bal, Mieke. Reading 'Rembrandt'-Beyond the Word-Image Opposition. Cambridge, MA: Cambridge UP, 1991.

Doyle, Jennifer. "Sex, Scandal, and Thomas Eakins's The Gross Clinic". Representations 68 (Autumn 1999). 1-33.

Fried, Michael. Realism, Writing, Disfiguration: On Thomas Eakins and Stephen Crane. Chicago: U of Chicago P, 1987.

Homer, William Innes. Thomas Eakins-His Life and Art. New York: Abbeville, 1992.

Johns, Elizabeth. Thomas Eakins. The Heroism of Modern Life. Princeton, NJ: Princeton UP, 1983.

Wilmerding, John, ed. Thomas Eakins. New York: Smithonian Institution P, 1993.