Das doppelt verwundene ödipale Dreieck in David Lynchs Lost Highway

Antje Tober

Lost Highway ist kein gewöhnlicher erzählender Kinofilm. Regisseur David Lynch konstruiert in und mit seinen Filmen eine eigene Welt, eine Welt, welche substantiell anders geartet ist als jene, die dem Zuschauer konventionell bekannt ist. Der Regisseur lässt mit jedem seiner Filme Lynchville neu entstehen, mit Filmen, welche durch eine eigene Zeitorganisation, Ikonographie, Motive und Themen gekennzeichnet sind, und damit ein ungewöhnliches Eigenleben entwickeln. Interpretationsversuche von Kritikern sind meistens zum Scheitern verurteilt, da Lynchs enigmatische Filme keine Lösung per se in sich tragen. Vielmehr können und müssen sie in ihrer narrativen sowie auch audio-visuellen Form als Verweis auf die Unmöglichkeit des menschlichen Erkenntnisstrebens nach Realität und Sinn gewertet werden. Dieser Tatbestand geht Hand in Hand mit aktuellen poststrukturalistischen Debatten, welche sich um die unstrukturierte Organisation von Welt und die fehlende sichere Basis für Wissen drehen. Positiv gewertet macht diese Ausgangslage den Weg frei für Kreativität, Erfindungs­reichtum und Experimentier­freudigkeit hinsichtlich der Konstitution von Welt und Realität. An dieser Stelle positionieren sich auch Lynchs Filme, die nicht die (eine) Lösung, sondern gleichzeitig viele Lösungen bieten und wiederum aber keine, weil sie aktiv mit Sinn gefüllt werden müssen und somit Raum für das ultimativ Kreative bieten.

Auch Lost Highway (1995) ist "eine Rückkehr nach Lynchville, eine Variation seiner ästhetischen und narrativen Leitmotive" (Seeßlen 152). Der Film stellt eine unbekannte Welt her, in welcher die vom Autor bewusst geschaffenen Leerstellen vom Zuschauer zwanghaft mit Bedeutung versehen werden. Lynch schafft damit gewollt Raum für Neues, Unkonventionelles, bis dato Undenkbares. Das Werk ergibt innerhalb der Schranken erlernter Rezeptionsweisen keinen logischen Sinn, keine "narrative closure" (Mulvey). Dabei "geht [Lost Highway] sehr viel weiter als das Spiel 'Erst die Antwort, dann die Frage' [...]" (Seeßlen 167). Die schiere Umkehrung der Herangehensweise, wie sie z.B. auch in Kriminalfilmen bei der Rekonstruktion des Verbrechens üblich ist, stellt für Lynch keine Option dar. Lynch möchte Schranken durchbrechen und das tut er, indem er bspw. seinem Film keinen Anfang und kein Ende gibt, indem er einzelne Handlungsstränge unlösbar miteinander verknotet und Zeit- sowie Raumgrenzen sprengt.

Bei der Interpretation von Lynchs Filmen, und insbesondere auch von Lost Highway, konzentrieren sich Filmwissenschaftler zumeist auf die ungewöhnlichen Aspekte. Bernd Herzogenraths Untersuchung der Zeitstruktur ergibt eine Anordnung in Form eines Lacanschen Möbiusbands: der Anfang und das Ende von Lost Highway sind in unkonventioneller Weise, d.h. für ein 'normales' menschliches Dafürhalten unlogisch verknüpft (vgl. Herzogenrath o.S.). Auch Ralfdieter Füller nimmt in seiner Dissertationsschrift diese These für Lost Highway auf und deutet Lynchs Gesamtwerk darüber hinaus als "Abkehr vom hegemonialen Diskurs", wobei die Betonung von "Künstlichkeit und das Gemachtsein aller Weltzugänge [...] in aller Schärfe hervorgetrieben [wird]" (Füller 240). Diese Offenlegung der Künstlichkeit von Welt ist es, welche Lynchs Filme das Unmögliche möglich machen lässt und eine eindeutige Rezeption schwierig gestaltet.

Wenn Kritiker sich in ihren Analysen von Lynchs Filmen den andersartigen Elementen zuwenden und ihre Interpretationen zu keinem einheitlichen Ergebnis führen, bzw. auf eine Metaebene gelangen, so verweist dies wiederum auf die Möglichkeiten, die sich innerhalb von Lynchs Filmen auftun. An dieser Stelle möchte ich daher einen Perspektivenwechsel vornehmen, der mich im Verlauf seiner Betrachtung wiederum zu einem ungewöhnlichen und be- bzw. entfremdenden Aspekt des Filmes führen wird. Entgegen einer filmanalytischen Konzentration auf das Andersartige soll vielmehr der Weg zum Unkonventionellen über die Inszenierung des Gewöhnlichen gesucht und gefunden werden. In den Fokus meiner Analyse soll ein Element rücken, das noch als konventionell an Lost Highway zu werten ist und dazu beiträgt, dass der Zuschauer während seiner Rezeption ein Interesse am Film aufrecht erhält: die Liebesbeziehung(en). Bei Lost Highway sind insbesondere drei Konstellationen von zentraler Bedeutung. Der erste Teil des Filmes dreht sich einerseits um Fred und Renée Madison (Abb. 1), die eine eheliche Beziehung führen. In diesem Zusammenhang steht andererseits die von Fred vermutete Affäre zwischen seiner Frau Renée und ihrem Bekannten Andy, welche im Film allerdings weder bestätigt noch negiert wird. Im zweiten Teil des Filmes, nachdem sich Fred in der Gefängniszelle in den jüngeren Pete Dayton verwandelt hat, werden, drittens, ebendieser und die blonde Alice Wakefield ein Paar (Abb. 2). Renée und Alice haben neben ihrer frappierenden Ähnlichkeit noch etwas gemeinsam: beide kennen Andy, der im Pornogeschäft tätig ist, näher und unterhalten Beziehungen zu ihm.

Schnell führt diese Konventionalität, denn ein sogenannter love interest ist noch in fast jedem Film enthalten, wieder zum Unkonventionellen. Das auf den ersten Blick 'normale' Vorkommen eines Liebespaares in einer Erzählung ist in Lost Highway als 'unheimliches' Element gestaltet. Zwischen Fred und Renée herrscht keine Nähe, keine Wärme und keine Liebe, diese werden negiert und zu Distanz, Kälte und Eifersucht verändert. Die Beziehung von Fred und Renée wird entgegen dem gängigen Ideal von Liebe konstruiert: was heimelig bzw. heimisch sein soll, wird unheimlich. In seinem teilweise kontrovers diskutierten Beitrag "Das Unheimliche" verweist der Psychoanalytiker Freud explizit auf die Verbindung des Unheimlichen zum Heimlichen bzw. Heimischen. Nachdem er den Begriff "heimlich" einer sprachwissenschaftlichen Analyse unterzogen und Daniel Sanders Wörterbuch der Deutschen Sprache von 1860 konsultiert hat, kommt er zu folgendem Resümee: "[...] das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute [sic] zurückgeht" (Freud 231). Später bringt er seine Ableitungen noch einmal wie folgt auf den Punkt:

Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich. (Freud 237)

Das Heim, das in der Semantik von (un)heimlich steckt, spielt auch in Lost Highway eine signifikante Rolle für die nunmehr unheimliche (Liebes-) Beziehung zwischen Fred und Renée. Die Räume sind dunkel, so düster wie die Stimmung des Paares; es dringt kein Geräusch von außen nach innen und umgekehrt, was auf die fehlende Kommunikation zwischen beiden hindeutet; die Anordnung der Räume ist verschlungen und gleicht einem Labyrinth, ein Verweis auf die Abgründe, die sich dem Zuschauer auftun werden. Seeßlen fasst das Heim der Madisons prägnant zusammen: "Das Haus ist eine einzige Festung, die Fenster erscheinen wie Schießscharten, alles scheint abweisend und karg [...]" (Seeßlen 166/7). Dieses Haus stellt eine eigene Welt dar, es ist hermetisch abgeriegelt von der restlichen Existenz und wird somit zum Dreh- und Angelpunkt des distanzierten Paares. In seiner Architektur unterstreicht das Haus umso mehr die kühle Atmosphäre, die zwischen Fred und Renée herrscht, und vermauert beide buchstäblich in ihrem Zustand: es gibt kein Entkommen aus Lynchville.

Wie aber geschieht es, dass das vertraute Heimelige zu etwas Unheimlichem, etwas Beängstigendem wird? Will man der Freudschen Erklärung dieses Phänomens Glauben schenken, so ist "dies Unheimliche [...] wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist" (Freud 254). Die Verdrängung von Wunschvorstellungen oder Ängsten ins Unbewusste und die Wiederkehr des Verdrängten ist auch Thema bei Lost Highway. Der Film kann als Erkundung des unzugänglichen Unbewussten durch das Subjekt gewertet werden: Fred wird zum Tode verurteilt für ein Verbrechen, an das er sich nicht erinnern kann: "I didn't kill her!" entgegnet er mental überzeugt aber körperlich geschwächt dem anklagenden Wort des Polizeibeamten. Was im Film dem Bewussten oder dem Unbewussten zugeschrieben wird, ist nur zu erahnen. Wirklichkeit, wie wir sie kennen, wird damit fundamental in Frage gestellt. Kann z.B. die Materialität des Videobands, das den Mord an Renée Madison dokumentiert und von der Polizei als Beweismittel gesichert wird, als Verweis auf die objektive Wahrheit gewertet werden, wo die Polizei doch zuvor keine Spuren eines Einbruches feststellen konnte und die Aufnahmen aus einer unmöglich hohen Perspektive gemacht worden sind (Abb.3)? Seeßlen bezeichnet in diesem Zusammenhang Lynchs Dramaturgie als "inversiv":

Wir erhalten nicht die Geschichte des Menschen, der aus sich selbst heraus gelangt, der sich aus ursprünglichen symbiotischen Beziehungen zum autonomen [...] Individuum entwickelt, sondern im Gegenteil die Geschichte eines Menschen, der immer tiefer in sich selbst oder in seine symbiotischen Beziehungen gelangt. (Seeßlen 227)

Hier spielt die binäre Opposition innen/außen eine Rolle, die bereits Derrida und nach ihm Kristeva (das Abjekt) dekonstruierten. Es kann keine scharfe Grenze zwischen dem Innen und dem Außen etabliert werden, gehört doch beides untrennbar zusammen. In diesem Sinne verfährt auch Lynch, denn, so Seeßlen, "[das] Innen ist nur die Haut des Außen und umgekehrt; wenn man nach außen geht, gelangt man paradoxerweise in ein noch tieferes Innen, und der Weg zu irgend einem Außen führt immer nur durch das Innen" (Seeßlen 227). Das Videoband z.B. liegt vor dem Haus, also außerhalb der Welt von Renée und Fred, ist damit aber doch ihrer inneren Welt zugeschrieben. Als es von Pete hereingeholt wird, enthüllt es die schreckliche Wahrheit (?) über ihn. Nur durch das Videoband erhält Fred Zugang zu seinem dunklen Unbewussten.

Der Mord an Renée, ganz gleich in welcher Wirklichkeit er geschehen ist, kann einerseits als klassisches Eifersuchtsdrama gewertet werden – Fred verdächtigt seine Frau eine Affäre mit Andy zu haben und tötet sie in einer Kurzschlussreaktion. Andererseits bietet der Film in seiner unkonventionellen Konstruktion dem Zuschauer ein gedoppeltes ödipales Drama an, auf das ich im Laufe meiner Ausführung zurückkommen werde. Fred tötet seine Frau, wird dafür zum Tode verurteilt und kommt zunächst ins Gefängnis. Er klagt über unerträgliche Kopfschmerzen, leidet an Halluzinationen und eines Morgens finden die Wärter an Freds Stelle in der Zelle den jüngeren Pete Dayton vor, der lediglich einen Eintrag wegen Autodiebstahls in seiner Polizeiakte hat. Aufgrund der Tatsache, dass er nicht Fred Madison ist, wird er entlassen. Nachdem er seine Arbeit als Automechaniker wieder aufnimmt, lernt er die blonde Alice Wakefield kennen, die Mr. Eddys Braut ist. Mr. Eddy ist ein gefährlicher Gangsterboss und Petes bester Kunde. Wie bereits erwähnt, gleichen sich Alice und Renée bis auf die Haarfarbe. Der nichtlineare, anachronistische Zeit-Code der Erzählung ermöglicht es, dass Alice und Renée als ein und dieselbe Person in unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen interpretiert werden können: daher argumentiere ich, dass Alice die frühere Renée bzw. Renée die spätere Alice repräsentiert. Durch die Verstrickung dieser Frau in kriminelle Kreise wäre eine einhergehende Änderung des Namens (und der Haarfarbe) durchaus denkbar. Die Transformation von Fred in Pete, der wesentlich jünger ist als Fred, könnte weiterhin als Wechsel der Zeitform gelten: die Gegenwart wird in die (unschuldige) Vergangenheit getauscht.

Die Verwandlung, so neutral sie hier beschrieben ist, erfährt keinerlei Erklärung auf der narratologischen Ebene des Films. Lynch lässt hier bewusst eine Leerstelle in der Erzählung entstehen, die am offensichtlichsten wird, wenn die Figuren mit furchterregender Mimik innerhalb der filmischen Diegese selbst nicht aussprechen (wollen), was in "jener Nacht" mit Pete passierte. Möglich macht dies, so Hirsch, die Konstruktion des Filmes als hybrides Genre: "noir-become-horror" (Hirsch 313). Der schlüssige (klassische) narratologische Aufbau von films noirs, die oft an das konventionelle Erzählgenre der Detektivfilme gekoppelt sind, wird hier durch die Verwendung von Elementen des Horrorgenres aufgelöst. Dies bringt den Einsatz von fantastischen Stilmitteln mit sich, in diesem Fall auf der Erzählebene, die jeglicher nachvollziehbarer Logik entbehren. Damit liegt die Erzählung außerhalb jeglicher narratologisch etablierter Konventionen, und Lost Highway wird deswegen oft als unbefriedigendes Filmerlebnis angesehen, weil er vom Rezipienten gemeinhin schlecht oder gar nicht verstanden wird. Zudem erhält der Film von Kritikern teils schlechte Bewertungen: "At [sic] attempt at 'cosmic' noir, Lost Highway is finally a self-enclosed puzzle, unsatisfactory as noir or horror, which recalls its rhymed opening and closing shots of an endless highway to nowhere" (Hirsch 314). Hirsch spricht mit diesem Zitat für viele, denn der Zuschauer sehnt sich auf der Erzählebene des Filmes nach narrative closure, nach Auflösung, und er verachtet bewusst konstruierte Leerstellen, deren Ausgangs- und Endsituationen logisch nicht passfähig scheinen.

In sich schlüssige Interpretationen von Lost Highway, die zudem der Verwandlung von Freds Figur Sinn geben, werden, so scheint es, nur mit Hilfe der Psychoanalyse möglich. Zahlreiche Autoren, die sich mit dem Film auseinander setzten, griffen auf diese, in den aktuellen Kulturstudien allerdings oft kritisierte, Methodik zurück. Dennoch liefert sie Ansatzpunkte, die ein Verstehen des Filmes letztendlich innerhalb der von der Psychoanalyse vorgegebenen Konventionen möglich macht. So sieht McGowan die Verwandlung der Figur Fred in Pete als Übergang vom unbefriedigenden Begehren zur scheinbar erfüllenden Fantasie. Fred begehrt Renée, umgekehrt bleibt ihr Begehren ihm aber verschlossen, er weiß nicht, was oder gar wen sie begehrt, und kann ihr Begehren demnach auch nicht erfüllen. Der einzige Ausweg für ihn aus dieser höchst frustrierenden Situation ist der Mord an seiner Frau: weil das Objekt des Begehrens ihm nicht zur Verfügung steht, zerstört er es. Entgegen seiner Erwartung sind seine Probleme damit aber nicht gelöst:

Despite her 'death', the enigma of Renee's desire continues to haunt Fred with increasing vehemence while he is in prison. [...] The more one tries to destroy this object, the more it continues to haunt. [...] It is at this point that Fred attempts to quell desire in another way - he gives up desire for fantasy, thereby resulting in his transformation into Peter Dayton. (McGowan 60)

Die einzige Lösung dieser Misere stellt die Verwandlung von Fred in den jüngeren Pete dar, der schlussendlich sein ideales alter ego darstellt: "In fantasy, we produce [...] an image of ourselves as we want to be - an ideal ego or imaginary identification. Peter Dayton fulfills this function for Fred Madison" (McGowan 61). Pete hat in vielerlei Hinsicht das, was Fred entbehrt, allen voran sexuelle Potenz. Außerdem bekommt Pete durch Fred Zugang zu Renées (Alices) Begehren. Somit wird es möglich, dass Freds / Petes Begehren letztendlich in der Imagination erfüllt werden kann (64).

Wenn wir den Gedankengang des Eifersuchtsdramas weiter verfolgen, dann eröffnet sich ein triadisches Verhältnis, welches einem ödipalen Dreieck ähnelt. Fred tötet Renée, weil er vermutet, dass sie eine Affäre mit Andy hat. Der Mord an der schuldbeladenen Renée eröffnet Fred über den Umweg der Transformation in Pete den Weg zu einer unschuldigen Alice, die in ihrem Aussehen bereits einem Engel gleicht. Jedoch ist diese Unschuld trügerisch: Alice (oder Renée?) wird eher als Hure inszeniert, wenn eine übergroße Videoleinwand im Haus von Andy sie beim Sex zeigt (Abb. 4). An dieser Stelle konstituiert sich ein verhängnisvolles ödipales Dreieck: Alice ist femmefatale, die Pete nur benutzt, um den Pornoproduzenten Andy auszurauben, der bei dem Überfall getötet wird. Somit steht kein weiterer Mann mehr zwischen Pete und Alice, und genauso wie Fred, ist Pete nun mit einem Mord belastet. Beide trianguläre Formationen sind durch die Transformation von Fred in Pete sowie die Ähnlichkeit von Renée und Alice an jeweils einer Seite miteinander verbunden und öffnen wie die anachronistische Zeitschleife den Zugang zu einer anderen, imaginären Realität (Abb. a).


Abb. A Das doppelt verwundene ödipale Dreieck in Lost Highway

Die Figur der femme fatale Alice evoziert neben (sexuellem) Begehren, ein weiteres Gefühl bei dem/n männlichen Protagonisten. Ist es bei Fred und Renée noch einzig und allein das (unbefriedigte) Begehren, das ihre Beziehung bestimmt, so wandelt sich dieses Gefühl mit Pete und Alice umso mehr in Angst. Carillo Rowe & Lindsey bemerken in Ihrer Analyse der Frau-Mann-Beziehung in Lost Highway folgendes: "White male struggles to master 'overly-empowered' white femininity, a trope of film noir, emerges here as white men both fear and desire white women" (Carillo Rowe & Lindsey 175). Der Machtgewinn der femme fatale ist laut Zizek im Übrigen auch ein Hauptmerkmal des sogenannten neo-noirs der 1990er Jahre, dem auch Lost Highway zu zuordnen ist:

[...] the new femme fatale who fully accepts the male game of manipulation, and, as it were, beats him at his own game, is much more effective in threatening the paternal Law than the classic spectral femme fatale. (Zizek 10)

Wurde Renée noch die Rolle des puren Objekts des Mannes zugeteilt, so vollzieht Alice den Wandel vom Objekt des Begehrens hin zum Subjekt. Indem sie ihre (vom Patriarch zugeteilte) Rolle als Sexualobjekt annimmt und sie sich zu Eigen macht, erfährt sie einen Machtzuwachs gegenüber dem Mann: "Alice is the ultimate sex object, yet she locates her own agency by using her hetero/sexual power to control the men that would control her" (Carillo Rowe & Lindsey 179).

Die neuerliche Macht, die Alice über Pete hat, spielt sie aus, als sie Pete zu einem Mörder macht. Alice kann Andy dadurch ausrauben, gleichzeitig vernichtet Pete damit seinen Kontrahenten und der Weg für die Erfüllung von Petes Begehren ist frei. Allerdings kommt es nicht soweit: Alice spielt ihre Machtposition am offenkundigsten aus, wenn sie sich am Schluss Petes Begehren mit den Worten "You'll never have me!" entzieht und für immer verschwindet. An diesem Punkt wird die Fantasie zugunsten der Realität aufgegeben, das Leben in einer imaginierten Welt stellt keine dauerhafte Lösung dar. McGowan nach ist diese Szene die Schlüsselszene des Filmes: "…because it reveals so clearly the limitations of fantasy. [...] The moment at which we would actually enjoy the object directly in fantasy, the object gets up and walks away, and the fantasy structure itself dissolves" (McGowan: 67). Auch Pete verwandelt sich zurück in Fred und da es keinen Platz für ihn in der Fantasie gibt, muss er an den Ort und an die Zeit des Ursprungs der Erzählung zurückfahren. Erneut nimmt er die Straße auf dem Möbiusband und am Ende von Lost Highway ist Fred Madison zurück bei seinem beengten Heim und bei seiner Ehefrau Renée. "Let the show begin anew!"

Kurzzusammenfassung des Filmes

Der Film startet mit einer Nachricht, die Fred über seine Sprechanlage erhält: "Dick Laurent ist tot". Fred ist von Angst und Unsicherheit geprägt. Er verdächtigt seine Frau Renée, ihn zu betrügen. Als sie wiederholt Videobänder mit Aufnahmen ihres Hauses und sogar sie selbst erhalten, kulminiert die Situation. Auf dem dritten Videoband sieht Pete die zerstückelte Leiche seiner Frau. Obwohl er sich nicht erinnern kann, wird er ins Gefängnis gebracht und zum Tode verurteilt. In seiner Zelle leidet er unter Wahn und Kopfschmerzen. Nach einer qualvollen Nacht finden die Wärter plötzlich den jüngeren Pete in der Zelle, der lediglich wegen Autodiebstahls verurteilt wurde. Pete ist in die Machenschaften des Gangsterbosses Mr. Eddy verwickelt, dessen Frau Alice Renée ähnelt – bis auf die Haarfarbe (Renée ist brünett, Alice ist platinblond). Pete fängt eine Affäre mit Alice an, die ihn dazu bringt, einen Mord zu begehen. Der Film endet an einer Hütte in der Wüste, wo Fred nachdem Pete mit Alice im Scheinwerferlicht des gestohlenen Wagens schläft, wieder auftaucht. Fred ermordet Mr. Eddy, der Dick Laurent ist, und überliefert sich selbst durch seine eigene Sprechanlage die Nachricht vom Tode Laurents.

Abbildungen 1-4


Abb. 1 Renée und Fred Madison


Abb. 2 Alice Wakefield und Pete Dayton

Abb. 3 Fred auf Videoband inmitten seiner zerstückelten Frau

Abb. 4 Alice / Renée beim Sex auf der Videoleinwand

Works Cited

Primärliteratur

Lost Highway. Dir. David Lynch, 1997.

Verzeichnis der zitierten Literatur

Carillo Rowe, Aimee; Samantha Lindsey (2003). "Reckoning Loyalties: White Femininity as 'Crisis' " Feminist Media Studies 3.2, 173-92.

Füller, Ralfdieter. Fiktion und Antifiktion: Die Filme David Lynchs und der Kulturprozeß im Amerika der 1980er und 90er Jahre. Trier: WVT, 2001.

Freud, Sigmund (1919). "Das Unheimliche" Anna Freud (Hg.) Gesammelte Werke: Zwölfter Band. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 1999. 229-68.

Herzogenrath, Bernd (1999). "On the Lost Highway: Lynch and Lacan, Cinema and Cultural Pathology" Other Voices 1.3 <http://www.othervoices.org/1.3/bh/highway.html>.

Hirsch, Foster. "Beyond Noir: The Roads to Ruin" Detours and Lost Highways: A Map of Neo-Noir. New York: Limelight, 1999. 307-24.

Kristeva, Julia. Powers of Horror: An Essay on Abjection. New York: Columbia UP, 1982.

McGowan, Todd (2000). "Finding Ourselves on a Lost Highway: David Lynch's Lesson in Fantasy" Cinema Journal 39.2, 51-69.

Mulvey, Laura (1975). "Visual Pleasure and Narrative Cinema". Thornham, Sue (Ed.) Feminist Film Theory: A Reader. Edinburgh: Edinburgh UP, 1999. 58-69.

Seeßlen, Georg. "Ein endlos geflochtenes Band: Lost Highway." David Lynch und seine Filme. Marburg: Schüren, 2003. 152-74.

Zizek, Slavoj. The Art of the Ridiculous Sublime: On David Lynch's Lost Highway. Seattle: The Walter Chapin Simpson Center for the Humanities, 2000.